Spaltung auf St. Pauli
27 set 2025 - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Von Frank Heike, Hamburg
Kapitän Jackson Irvine steht wie kein anderer für die Marke des links-alternativen Fußball-Bundesligaklubs. Doch seine Haltung zu Palästina treibt den Verein in ein gefährliches Dilemma.
Der Israel-Palästina-Konflikt hat das Millerntor erreicht. Sein Kapitän treibt denFoto dpa, Bearbeitung F.A.Z.Symbolverlust: Jackson Irvine, Kapitän und lange die Identifikationsfigur des FC St. Pauli, stellt den Fußball-Bundesligaklub wegen seiner Haltung zu Israel vor eine unlösbare Aufgabe. Denn der Verein will sich auf keine Seite schlagen.
FC St. Pauli in ein Dilemma. An diesem Samstag wird die Fanvereinigung „Ultrà Sankt Pauli“(USP) beim Spiel der Fußball-Bundesligamannschaften des FC St. Pauli gegen Bayer 04 Leverkusen am Millerntor für „Clean Shelter“sammeln. Mit dem Geld sollen Menschen in Palästina unterstützt werden. „Clean Shelter“habe sich zum Ziel gesetzt, die Not in Gaza zu lindern. Leider habe die Initiative bisher wenig Aufmerksamkeit bekommen.
Das Projekt sei von zwei Frauen mit palästinensischer und israelischer Identität gegründet worden, schreibt die USP. Das Vereinende, nicht das Trennende sei ihr wichtig.
Die Fanvereinigung hatte beim Heimspiel gegen den FC Augsburg vor zwei Wochen ein Banner mit der Aufschrift „Netanjahu, fascist! Stop killing civilians in Palestine!“(„Netanjahu, Faschist! Stopp das Töten von Zivilisten“) gezeigt. Auf den Rängen prallten an diesem Nachmittag zwei Haltungen aufeinander: die Kritik am israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu (Likud) und seinem harten Vorgehen im IsraelGaza-Krieg. Und die Kritik an der Terror-Organisation Hamas und ihrem Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023. Wobei sogar eine gemeinsame Formel gefunden wurde: „Fuck Hamas! Fuck Likud!“, stand zu lesen.
Zu Handgreiflichkeiten kam es, als gelbe Schleifen auf der Gegentribüne hochgehalten wurden als Zeichen der Solidarität mit den noch lebenden Geiseln des initialen Überfalls. Danach habe es im Stadion Bedrohungen gegen die Menschen gegeben, die Anteil am Schicksal der israelischen Geiseln bekunden wollten, schrieb der FC St. Pauli: „Dass ein Symbol wie die gelbe Schleife (welche für Menschen und nicht gegen Menschen steht), zu massiven Gewaltandrohungen führt, ist inakzeptabel.“
Der Nahostkonflikt ist im MillerntorStadion angekommen. Auf der einen Seite die Position einer eher dogmatischen Linken mit klarem Bekenntnis zu Palästina und einer Ablehnung Israels. Auf der anderen Seite die sogenannte Anti-Deutsche Haltung der eher autonomen Linken, die aus der deutschen Geschichte heraus eine starke Solidarität mit dem Staat Israel und seinen Menschen pflegt – nicht ohne das Handeln des Likud zu kritisieren. Seitdem versuchen sich Verein und USP an einem einigenden Diskurs. „Wir appellieren an alle Teile unserer Fanszene, den Fokus weiter auf das Gemeinsame zu legen und sich nicht aufgrund innerlinker Differenzen zu bekriegen!“, schreibt USP in einem Statement. „Verschiedene Banner beim Spiel gegen Augsburg zeigen, dass Meinungspluralismus am Millerntor gelebt wird“, teilte der FC St. Pauli der F.A.Z. mit. Im Mai hatte sich der Klub so positioniert: „Für den FC St. Pauli als antifaschistischen und progressiven Verein ist vollkommen klar: Wir stehen nicht an der Seite einer radikal-antisemitischen, fundamentalistischen Terror-Organisation wie der Hamas oder mit ihren verbündeten Gruppen. Wir stehen aber selbstverständlich auch nicht an der Seite einer rechtsextremen und rassistischen Regierung wie der von Benjamin Netanjahu.“
Eine knappe Woche nach dem Spiel gegen Augsburg teilte St. Paulis Kapitän Jackson Irvine ein Video der „S.O.S. Gaza“-Demonstration in Hamburg. Der Australier äußert seit einigen Monaten seine Solidarität mit den Menschen in Gaza auf seinen digitalen Kanälen. Doch die Demonstration, für die beim AugsburgSpiel auch am Millerntor geworben worden war, sah sein Arbeitgeber kritisch. Sie sei „Rechtsoffen “gewesen, denn auch rechte und verschwörungsideologische Akteure hätten (für sie) mobilisiert, schrieb der FC St. Pauli in einer Erklärung.
Irvine sammelt durch solche bewussten Aktionen keine Pluspunkte mehr in seinem Klub. Vielmehr gibt es deutliche Absetzbewegungen vom Spieler wie vom Verein. Seit er im Juni bei einem Musik-Festival in Portugal ein Shirt der Modemarke „FC Palestine“trug, sieht er sich dem Vorwurf der Israelfeindlichkeit ausgesetzt. Manche warfen ihm gar Antisemitismus vor. Wochen später reagierte Irvine im Trainingslager des FC in einer Presserunde inhaltlich, und, wie Anwesende erzählen, gerührt: „Ich habe das Shirt als Zeichen der Solidarität für die Menschen in Palästina und in Gaza getragen, die derzeit unter unbeschreiblichen Gräueltaten leiden.“Auf dem T-Shirt ist der Nahe Osten ohne Israel abgebildet.
Irvine begab sich auf eine gefährliche Gratwanderung. Denn das Shirt steht nicht nur für die Solidarität mit den Leidenden in Gaza, sondern impliziert die Löschung Israels aus der Landkarte. Die Gelegenheit, die Israelis um Entschuldigung zu bitten, ließ er aus.
Jackson Irvine ist die wichtigste Identifikationsfigur des Klubs; er steht für die Marke „FC St. Pauli“, deren links-alternatives Image, wie kein anderer Spieler. Er ist Kapitän, Wortführer, politisch, modisch, klug, belesen, charmant, interessiert, offen, nahbar. Ein Kulturfan. Gitarrenspieler, Nutzer des ÖPNV. Ein Weltbürger – der völlig andere Profi. Auf seiner neuen Homepage bezeichnet sich der 31-Jährige aus Melbourne als Profi-Fußballer und „Social Advocate“, also als Aktivist. Die meisten Fans kaufen sein Trikot. Im Winter, so hat er angekündigt, will er nach Sri Lanka reisen, um die Anbaumethoden auf Teeplantagen anzuschauen. Er wirbt für die sozial engagierte und nachhaltige Marke „Lemonaid/ Charitea“.
In Australien und Schottland sozialisiert, mag er einen anderen Blick auf den Nahost-konflikt haben als die Deutschen und ihre Regierung. Drei Jahre spielte er bei Celtic Glasgow, wo eine große Nähe zu Palästina gepflegt wird. Auch Bands, zu denen er die Nähe sucht, machen aus ihrer ProPalästina-Haltung keinen Hehl. Mehrfach habe der Verein mit ihm gesprochen, auch Präsident Oke Göttlich: „Es hat bereits vor Monaten mit Jackson Irvine einen Austausch gegeben. Der Verein hat in dem Gespräch die gemeinsamen Leitlinien mit dem Mitarbeitenden geteilt und sich auf die Werte der unteilbaren Humanität verständigt“, schreibt der FC.
Das besondere Verhältnis Deutschlands zu Israel sollte Jackson Irvine verstanden haben. Von seiner Linie weicht er aber nicht ab. Stattdessen reproduziert er Sichtweisen seiner gesellschaftspolitischen Blase. Das finden einige Fans gut, andere aber schlecht. Plötzlich ist Jackson Irvine kein Symbol mehr für Vereinigung.
Der FC St. Pauli wünschte sich eine differenziertere Position Irvines auch, um das Thema beenden zu können. Der F.A.Z. antwortet der Stadtteilverein am Donnerstag schriftlich: „Der FC St. Pauli ist ein Sportverein mit mehr als 50.000 Mitgliedern und einem politischen Anspruch. Gleichzeitig werden wir den Nahost-Konflikt am Millerntor nicht lösen können. Uns ist es wichtig, Unterstützung zu organisieren, Gemeinsamkeiten zu betonen, Menschen zusammenzubringen und Räume für Austausch zu öffnen. Politik und gesellschaftliche Debatten sind kein Fußballspiel, bei dem sich zwei Teams gegenüberstehen und gegeneinander spielen. Wir wollen Diskussionen erreichen, in denen Zwischentöne möglich sind und ein Verein nicht als Projektionsfläche für unversöhnliche Entweder-oder-Positionen herhalten muss.“Jackson Irvine selbst werde sich nicht äußern, auch, weil er derzeit verletzt sei und an seiner Rückkehr arbeite.
Während viele Spielerberater ihren Klienten wegen der unmenschlichen Urteile in digitalen Medien explizit empfehlen, politische Meinungsäußerungen zu unterlassen, ist ein „politischer Kapitän“für einen Klub wie den FC St. Pauli maßgeschneidert. Doch steckten Vereine mit politisch aktiven Spielern schnell in einem Dilemma, sagt der Sportsoziologe Professor Thomas Alkemeyer von der Oldenburger Carl-von-Ossietzky-Universität: „Aussagen gegen Rassismus, für Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit werden heute von zahlreichen Vereinen toleriert oder sogar unterstützt. Doch Kritik an der eigenen Regierung oder an eigenen Sponsoren, kontroverse Themen oder Aussagen, die als polarisierend betrachtet werden können, werden weiterhin unterbunden, in wenigen Fällen sogar geahndet oder sanktioniert.“In einigen Fällen seien klare Sanktionen deshalb unproblematisch für den Verein, weil sie in der Öffentlichkeit erwartbar auf einen breiten Konsens stießen wie bei Sympathiebekundungen von Fußballern für Erdoğan.
Alkemeyers Kölner Kollege Jürgen Mittag geht einen Schritt weiter: „Der Verein steht vor dem Dilemma, einen Spieler, der das alternative Image des Klubs idealtypisch verkörpert und als Kapitän besondere Aufmerksamkeit erfährt, politisch einzufangen. Bislang ist dies misslungen, sodass absehbar Sanktionen im Raum stehen, um zu vermeiden, dass sich die Causa Jackson Irvine zum Sprengsatz für St. Pauli entwickelt“, sagt der Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule Köln: „Sollten diese keine Konsequenzen zeigen, könnte es nicht nur dazu kommen, dass der Spieler seines Kapitänsamtes enthoben wird, sondern dass man sich wie im Fall El Ghazi bei Mainz 05 sogar von ihm trennt.“
Im November 2023 hatte der FSV Mainz 05 seinen Profi Anwar El Ghazi wegen israelfeindlicher Kommentare fristlos entlassen. Die Kündigung erfolgte erst, nachdem El Ghazi sich von seinen Posts nicht inhaltlich distanziert hatte. Der Niederländer mit marokkanischen Wurzeln klagte gegen die Freistellung und bekam im Juli 2024 vor einem Arbeitsgericht recht. Seine Äußerung sei von der Meinungsfreiheit gedeckt. Der Klub ging in Berufung. Verein und Spieler können sich bis zum 8. Oktober außergerichtlich einigen. Sonst entscheidet das Mainzer Landesarbeitsgericht. Der Fall „El Ghazi“könnte den FSV 2,3 Millionen Euro (Gehalt) kosten. Eine solch schmutzige Trennung will beim FC St. Pauli niemand.
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