Der Wind von gestern


Von einer der faszinierendsten Mannschaften, die je in der Bundesliga spielte, sind nur noch Fragmente übrig. Schafft Bayer Leverkusen es, sich neu zu erfinden?

23 Aug 2025
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Von Daniel Theweleit, Leverkusen

Spontaner Widerstand regt sich in Simon Rolfes, als er in dieser Woche mit einer These konfrontiert wird, der bei gejewird. nauer Betrachtung kaum mand widersprechen Der für den Sport verantwortliche Gesoll schäftsführer von Bayer Leverkusen erklären, was geblieben sei von der einmaligen Zeit mit dem Ausnahmetrainer Xabi Alonso, dem Superfußballer Florian Wirtz und dem Gewinn des Doubles 2024. Wafragt rum diese Zeit einmalig sein soll, er im Gespräch mit der F.A.Z. erst mal zudann rück. Er muss sich kurz sammeln, um doch einzusehen: „Ungeschlagen Meister zu werden, das war in der Tat historisch.“Fotos dpa (2), Picture Alliance (2); Bearbeitung F.A.Z. Soll das neue Team formen: Trainer Erik ten Hag

Diese kleine Anekdote illustriert ganz gut, welchen Kampf die Verantwortlichen beim Doublesieger von 2024 in diesem Sommer führen, der mit Begriffen wie „ausbluten“oder „XXL-Umbruch“bedass schrieben wird: Der giftige Gedanke, die beste Zeit erst mal vorbei ist, ist tabu. Zumindest als Vorstellung soll die MögKonkurrenz lichkeit bestehen bleiben, die aus Dortmund, Frankfurt und Leipzig abermals hinter sich zu lassen und vielleicht sogar weitere Titel zu gewinnen. Also sagt Rolfes: „Wir sind bereit dazu, wieder eine neue Geschichte zu schreiben und eine neue Titelmannschaft zu bauen.“

Das ist nötig, weil mit Alonso nicht nur der wahrscheinlich weltweit spannendste Trainer unter 50 weitergezogen ist, sondern auch noch 13 Spieler. Darunter der fabelhafte Wirtz, der Nationalverteidiger Jonathan Tah, der Strategiechef Granit Xhaka, der Flügelsprinter Jeremie Frimpong. Außerdem der langjährige Kapitän Lukáš Hrádecký, der als reifer und zugleich lebensfroher Mittdreißiger viel zur zwischenmenschlichen Balance in der Kabine beigetragen hat. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass nur noch Fragmente übrig sind von einer der faszinierendsten Mannschaften, die jemals in der Bundesliga spielte.

Im noch nicht durch aberwitzige Millionensummen beschleunigten Fußball des vergangenen Jahrhunderts hätte dieses Leverkusen womöglich eine lange Erfolgsphase prägen können. Ähnlich wie die Mönchengladbacher Fohlenelf mit ihren fünf Meisterschaften zwischen 1970 und 1977, wo die Stars noch nicht nach 20 guten Spielen von Großinvestoren weggelockt wurden. Im Leverkusen der Gegenwart müssen sie froh sein, nicht schon 2024 entkernt worden zu sein.

Das folgt jetzt mit einer Wucht, die dem in der jüngeren Vergangenheit mühsam renovierten Selbstbild schwere Schäden zufügen kann: Wird Bayer Leverkusen auch ohne Tah, Alonso und Wirtz ein Klub bleiben, der Titel gewinnt? Die Furcht vor dem Verlust dieser Eigenschaft ist nicht nur an Rolfes’ Widerspruch gegen die These von der Einzigartigkeit der AlonsoJahre erkennbar.

Als Ende Mai der neue Trainer Erik ten Hag vorgestellt wird, geht es nicht zuletzt um die Frage, ob die unter Alonso entwickelte Gewinnermentalität verloren gehen könnte. Nein, versichert ten Hag damals umgehend und sagt, auch nach dem Weggang seines Vorgängers spüre er „überall im Verein diese Siegermentalität“. Im Anschluss an den offiziellen Teil der Vorstellung wird dann deutlich, wie empfindlich dieser Punkt ist, als sich der Klubchef Fernando Carro im kleinen Kreis grollend darüber beschwert, dass so eine Frage nach der Titeltauglichkeit überhaupt zum Thema gemacht wird.

Wie viel von der Erfolgsattitüde erhalten bleibt, die Alonso unter der Ägide von Rolfes und Carro gemeinsam mit Xhaka, Tah, Wirtz und den anderen erzeugte, ist vorerst jedoch offen. Schon der ehrgeizige Carro hat als Nachfolger des harmoniebedürftigen Rudi Völler daran gearbeitet, zielstrebiger, hungriger und selbstbewusster Erfolge möglich zu machen.

Das hat hervorragend geklappt. Aber der nun erzwungene Neustart nach dem Höhenflug hat bedenkliche Facetten: Nach Saisonende wird beispielsweise schnell deutlich, dass nach Wirtz, Tah und Alonso auch Granit Xhaka Leverkusen verlassen will, der eigentlich als führende Kraft des Neuaufbaus vorgesehen war. Der Schweizer spielt künftig lieber beim PremierLeague-Aufsteiger AFC Sunderland in England als mit Bayer 04 in der Champions League. Es gibt verschiedene Theorien zur Entfremdung des Schweizers vom Ort seines bislang größten sportlichen Erfolges. Manche sagen, er sei gekränkt, weil ten Hag nicht sofort das Gespräch mit ihm gesucht und gemeinsame Pläne geschmiedet habe. Andere meinen, Xhaka wollte unbedingt die Chance ergreifen, am Ende seiner Karriere noch einmal ein paar Millionen Euro mehr zu verdienen, als ihm Bayer 04 bot. Klar ist, dass das Verhältnis dieses Spielers zum Werksklub nach dem von riesengroßen Gefühlen überwölbten

Doublejahr vollständig erkaltet ist. Eine stabile Verbindung zwischen dem Anführer und dem Klub ist nicht entstanden.

Der Umbruch, der nicht zuletzt deshalb viel massiver ausfällt als gedacht, birgt in Rolfes’ Augen jedoch auch Chancen. Denn das Meisterensemble war nach dem über Monate andauernden Rausch des Titeljahres wenn nicht verkatert, dann doch irgendwie satt. Wegen der hohen Grundqualität im Kader habe die Mannschaft zwar „auf einem gewissen Niveau“weitergespielt und die vergangene Saison auf einem ungefährdeten zweiten Tabellenplatz beendet, sagt Rolfes. Aber im Frühjahr sei im Team „eine Trägheit“entstanden, die nun durch die Einschnitte in die Teamstruktur aufgebrochen worden sei.

Trainer und Manager hoffen, dass dieses Problem mit den vielen Transfers verschwunden ist. Rolfes jedenfalls sagt: „Wir haben wieder eine große Dynamik im Kader, es wird um die Plätze im Team und um die Rollen innerhalb der Gruppe gekämpft. Viele Spieler versuchen, ihre neuen Freiräume zu nutzen.“

Robert Andrich, dessen Bedeutung im Team im Vorjahr eher schwand, ist der neue Kapitän. Patrik Schick, der in seinen mittlerweile fünf Jahren in Leverkusen nie als Wortführer in Erscheinung getreten ist, fordert zu Beginn der Sommervorbereitung plötzlich forsch Verstärkungen. Aber können Andrich, Schick, der neue Torwart Mark Flekken und der Trainer ten Hag eine Mannschaft ähnlich schlau und weitsichtig führen wie Alonso, Xhaka, Tah und Hrádecký?

Rolfes wirbt um Geduld und propagiert einen Perspektivwechsel: weg vom Schmerz über die verlorene Qualität, hin zum Blick auf die nachhaltig hinzugewonnene Substanz. Dass gleich vier tragende Figuren der Erfolgsjahre in wichtige Positionen bei den Weltklubs aus Liverpool,

Madrid und München gewechselt sind, sei ein sicheres Zeichen für den Fortschritt. „Ich sehe das positiv“, sagt der Geschäftsführer, denn: „So viele Leute haben wir zuvor nicht einmal in die Weltspitze gebracht, wenn man all unsere Transfers der letzten 20 Jahre zusammennimmt.“

Insofern seien die Vereinswechsel von Wirtz und Frimpong nach Liverpool, von Tah nach München und Alonso nach Madrid nicht nur ein Verlust, sondern auch ein Gewinn, der ab sofort als bleibendes Imagemerkmal mit Bayer Leverkusen verbunden ist: Hier am Rhein, auf den Trainingsplätzen neben der Autobahn, ist jetzt ein Klub zu Hause, bei dem Fußballer mit den entsprechenden Anlagen den letzten Schritt in die Phalanx der Weltklasse hinbekommen.

Auf dieser Ebene ist Bayer Leverkusen an Borussia Dortmund herangerückt, wo der Ruf, Profis wie Robert Lewandowski, Erling Haaland, Jude Bellingham oder Ousmane Dembélé ausgebildet zu haben, jahrelang dabei half, neue Talente mit Weltklassepotential anzulocken. Das soll auch in Leverkusen möglich sein, vielleicht sogar besser als beim BVB. Schließlich hat Rolfes in den vergangenen Jahren regelmäßig bessere Transferentscheidungen getroffen als die Kollegen in Dortmund, München oder Leipzig.

„Wir werden jetzt als ein Klub wahrgenommen, zu dem du als Spieler hingehst, um diesen letzten Schritt zu gehen. Das ist neu“, sagt Rolfes. Jarell Quansah oder Malik Tillman, die bereits für den FC Liverpool und den FC Bayern in der Champions League gespielt haben, „hätten wir in der Vergangenheit nicht bekommen“. Das ist, was in Rolfes’ Augen bleibt aus der erfolgreichsten Ära, genau wie der fortan fest im Wesenskern von Bayer Leverkusen verankerte „Glaube, große Dinge schaffen zu können“.

Das erste Ziel lautet jedoch, abermals die Champions League zu erreichen, denn niemand erwartet, dass die meist sehr jungen Neuzugänge sofort zu einer Mannschaft werden, die um den Titel mitspielt. Insgesamt wurden für Flekken, 32, Tillman, 23, Quansah, 22, Ibrahim Maza, 19, Ernest Poku, 21, Axel Tape, 18, Christian Kofane, 18, Loïc Badé, 30, und das von Manchester City ausgeliehene Großtalent Claudio Echeverri, 19, knapp 150 Millionen Euro investiert. Wirklich erfahren sind nur Flekken, Badé und mit Abstrichen Tillman. Den anderen Neuzugängen mangelt es an Reife, was herausfordernd werden kann im Verlauf eines Erneuerungsprozesses, der von klugen Köpfen umgesetzt werden muss.

Das Projekt ist allerdings ohnehin darauf angelegt, eher in ein, zwei Jahren als schon im kommenden Herbst seine ganze Kraft zu entwickeln. Zumal Kritiker anmerken, dass die Mannschaft nicht nur viel Bundesligaerfahrung verloren habe, sondern auch vor einer kulturellen Herausforderung stehe: Die neuen Spieler kommen vorwiegend aus England, aus den Niederlanden und aus Frankreich, während nur ein einziger Profi verpflichtet wurde, der in der vergangenen Saison in der Bundesliga spielte: Tim Oermann vom VfL Bochum, der umgehend an Sturm Graz weiterverliehen wurde. Droht also die Gefahr, dass Kommunikationsschwierigkeiten in der Kabine die Entwicklung bremsen?

„Das sehe ich gar nicht so“, sagt Rolfes. „Ibrahim Maza ist in Deutschland aufgewachsen, Malik Tillman auch, Mark Flekken stammt aus dem Grenzgebiet zwischen Deutschland und Holland und hat lange in der Bundesliga gespielt“, sagt er. Zwar ist Maza für die algerische Nationalmannschaft aktiv, Flekken ist Niederländer und Tillman spielt für die USA, aber mit Deutschland sind sie bestens vertraut. Zudem sei man in Leverkusen daran gewöhnt, dass in jedem Sommer eine Gruppe neuer Spieler dazukommt. Integrationsprobleme gab es selten.

Vieles wird damit auf ten Hag ankommen, der als Nachfolger Alonsos mehr noch den permanenten Vergleichen mit der Vergangenheit ausgesetzt ist als die Spieler. Gerne sagt er in diesem Sommer den schönen Satz: „Auf dem Wind von gestern kann man heute nicht mehr segeln.“Diese Einsicht wird ihn aber nicht vor Zweifeln und Kritik schützen, wenn die Mannschaft nicht sofort funktioniert. Zumal er bereits vor einem Jahr als Trainer von Manchester United neue Spieler für rund 180 Millionen Euro nicht mit dem bestehenden Gerüst zu einem Erfolgsteam verschmelzen konnte. Im Herbst wurde er entlassen.

Bis sich wirklich „alle Rädchen ineinander fügen und alles wieder so geschmiert läuft wie im Meisterjahr, müssen die Jungs vielleicht schon erst mal ein, zwei Jahre zusammenspielen“, sagt Rolfes. Einen Platz unterhalb der Top Vier würde er aber trotzdem nur schwer akzeptieren. Denn ein Absturz nach dem großen Höhenflug, womöglich sogar hinab in die Europa League, würde dann doch schmerzlich an das alte „Vizekusen“erinnern, das eigentlich auf dem Schrottplatz der Fußballgeschichte entsorgt worden ist.

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