Die verlorenen Talente
Fotos: AP/dpa; Tim Groothuis, WittersAuslöser einer großen Debatte:
Das Foto von Recep Tayyip Erdogan (rechts) und Mesut Özil.
Uzun, Stanisic, Asllani: Immer mehr Spieler mit Doppelstaatsbürgerschaft wenden sich vom DFB ab. Für Geschäftsführer Andreas Rettig ist das eines der „Zukunftsthemen“. Was er ändern will.
Allein FCA-Spieler Mert Kömür hat im U21-Kader türkische Wurzeln.
Der Fall Özil: „ein Bruch“innerhalb der deutsch-türkischen Gemeinschaft.
17 Oct 2025 - Schwabmünchner Allgemeine
Von Florian Eisele
Frankurt am Main - Can Uzun ist einer der Stars dieser Bundesliga-Saison. Der 19-Jährige ist bei Eintracht Frankfurt trotz seines Teenageralters die Stütze im Offensivspiel. In bislang neun Pflichtspielen kommt er auf sechs Tore und vier Vorlagen. Laut Branchenportal Transfermarkt ist der Teenager nun 45 Millionen Euro wert - Tendenz stark steigend. Es ist eine Erfolgsgeschichte, die Rudi Völler, der Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes, mit gemischten Gefühlen verfolgt. Bei Uzun habe er „ein Tränchen im Auge“. Denn der in Regensburg geborene Kicker wird nie das Trikot der deutschen Nationalmannschaft tragen. Vor eineinhalb Jahren gab das Talent bekannt, für die Türkei aufzulaufen. Uzun ist das prominenteste, aber bei Weitem nicht das einzige Beispiel für einen hierzulande geborenen und aufgewachsenen Spieler, von dem der DFB nicht profitiert. Geschäftsführer Andreas Rettig sagt dazu gegenüber unserer Redaktion: „Das ist eines der ganz großen Zukunftsthemen beim DFB. Es ist ein echter Wettbewerb um die Talente entbrannt.“
Und zuletzt hat der DFB diesen Wettbewerb immer seltener gewonnen. Der Regensburger Kenan Yildiz ist 20 Jahre, Stammspieler bei Juventus Turin und stürmt für die Türkei. Josip Stanisic wäre der Rechtsverteidiger, den die deutsche Auswahl so dringend brauchen könnte – der 25-jährige Münchner hat aber bereits 25 Einsätze für Kroatien absolviert. Fisnik Asllani kam vor 23 Jahren in Berlin auf die Welt, traf in dieser Saison schon vier Mal für Hoffenheim – und läuft für den Kosovo auf. Eine Untersuchung des DFB drückt die Misere in Zahlen aus. Demnach haben aktuell 43 Prozent der unter fünf Jahre alten Kinder in Deutschland einen Migrationshintergrund. Beim Fußball, dem Spiel, für das es nur ein paar Kickschuhe und Schienbeinschoner braucht und das für viele einkommensschwache Familien erschwinglich ist, sind es sogar deutlich mehr, wie eine Analyse aller DFB-Jugendauswahlteams ergab. Im Endspiel um die deutsche Jugendmeisterschaft lag die Quote sogar bei 70 Prozent. Alleine im aktuellen Kader der U21-Nationalmannschaft könnten 16 von 23 Spielern den Verband wechseln.
Bezeichnend dabei: Obwohl 3,8 Prozent der deutschen Bevölkerung einen türkischen Migrationshintergrund hat und die Türkei damit die größte Migrantengruppe in Deutschland ist, findet sich in der U21 mit dem Augsburger Mert Kömür nur ein einziger Spieler mit türkischen Wurzeln. In der A-Nationalmannschaft gab es bei den jüngsten Länderspielen keinen einzigen Spieler mehr, der auch einen Pass der Türkei hat. Aber woran liegt das? Familienbande spielen wohl eine Rolle, sportliche Überlegungen ebenso. Ein offenes Geheimnis ist es aber auch, dass der türkische Verband mehrere Angestellte in Europa beschäftigt, die Spieler suchen und offensiv auf diese zugehen. Nicht immer sollen die Versprechungen, die dabei gegeben werden, auch gehalten werden. Uzun etwa musste nach seinem Debüt für die Türkei ein Jahr auf seinen zweiten Einsatz warten, bei der EM war er nicht im Kader.
DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig war beim Versuch, Uzun zu überzeugen, dabei: Zusammen mit Rudi Völler und U21-Trainer Antonio di Salvo traf sich die DFB-Delegation auf dem Trainingsgelände von Uzuns damaligen Klub 1. FC Nürnberg. Ein „offenes und ehrliches Gespräch“sei das gewesen, sagt Rettig. Der DFB werde die Entscheidung jedes einzelnen Spielers respektieren, betont er: „Es steht uns nicht zu, den jeweiligen Nationalstolz gegeneinander aufzuwiegen. Der Adler ist nicht bedeutsamer als der Halbmond.“Rettig gibt aber auch zu bedenken: „Natürlich spielt auch die Abwägung eine Rolle, in welche Konkurrenzsituation sich ein Spieler begibt, wenn er für die deutsche Mannschaft spielen will. Das sind legitime Überlegungen, die auch jeder Spieler bei einem Vereinswechsel anstellt.“Anders formuliert: Auch ein Uzun hätte seine Probleme, sich im deutschen Mittelfeld gegen Wirtz und Musiala zu behaupten.
Wer sich in der deutsch-türkischen Gemeinschaft umhört, bekommt aber auch immer wieder einen Namen zu hören: Mesut Özil. Der Weltmeister von 2014 schied im Unfrieden vom DFB, sah sich als Opfer von Rassismus und stellte seinem Geburtsland folgendes Zeugnis aus: „Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Migrant, wenn wir verlieren.“Dass die Erinnerung an Özil heute noch eine Rolle spielt – Andreas Rettig mag es „nicht ausschließen“und fügt an: „Allgemein würde ich mir in unserem Land diesbezüglich eine zugewandtere Willkommenskultur wünschen.“
Der SPD-Politiker Macit Karaahmetoglu ist Vorsitzender der Deutsch-Türkischen Gesellschaft und wird noch deutlicher: „Der Umgang mit Mesut Özil nach seinen Fotos mit dem türkischen Präsidenten – und das sage ich als scharfer Kritiker Erdogans – markiert einen Bruch im Verhältnis Deutschlands zur deutsch-türkischen Community.“Der Bundestagsabgeordnete betont, den türkischen Staatspräsidenten im höchsten Maße zu verurteilen: „Er ist korrupt und demokratiefeindlich. Aber Kritik an einem Fußballspieler, der aus welchen Gründen auch immer eine Sympathie oder Loyalität diesem Staatschef gegenüber verspürt, darf nicht maßlos sein. Das war sie in dem Fall und hat ein weitverbreitetes Gefühl der Diskriminierung bei Deutsch-Türk:innen hinterlassen.“Der Diskurs zur Türkei in Deutschland werde, so Karaahmetoglu weiter, von kleinen Minderheiten innerhalb der türkeistämmigen und migrantischen Community dominiert, „die den Staat Türkei hassen – weit über den Machthaber und seinen natürlich zu verurteilenden Kurs hinaus“. Das bekomme auch ein muslimisch-gläubiger Nationalspieler wie Antonio Rüdiger immer wieder zu spüren. „Und so glaube ich, dass viele junge Spieler, die zwischen dem deutschen und dem türkischen Verband entscheiden können, sich für den Weg entscheiden, auf dem sie weniger eine ihrer beiden Identitäten verleugnen müssen. Eben um sich nicht maßloser oder unfairer Kritik aussetzen zu müssen, wenn es um ihre Verbundenheit zur Türkei geht, obwohl sie Deutsche sind.“
Auch andere Verbände haben ein Problem mit Wechseln ihrer Spieler zu anderen Verbänden. In der Schweiz etwa haben 70 Prozent der Juniorennationalspieler einen Doppelbürger-Status. Um die Talente zu binden, haben die Eidgenossen das Programm „Footuro“gestartet. Damit sollen die größten Talente jedes Jahrgangs in einer Art Rundumbetreuung speziell gefördert werden. Zugleich verpflichten sich die Spieler aber auch dazu, während der Footuro-Phase nicht für andere Verbände zu spielen. Wer das doch tut, muss eine Strafe zahlen, die dem Vernehmen nach im fünfstelligen Bereich liegen soll. Das sei bislang aber kaum vorgekommen, sagte Patrick Bruggmann, Direktor Fußballentwicklung beim Schweizer Fußballverband SFV, dem Portal Watson: „Dass ein Spieler nur wegen einer drohenden Buße für die Schweiz spielt, ist nicht Sinn der Sache. Wir wollen eine Identifikation mit unseren Werten – fußballerisch und persönlich.“
Dennoch musste die Schweiz zuletzt auch schmerzhafte Abgänge verkraften: Mittelfeldspieler Leon Avdullahu, Profi in Hoffenheim, durchlief alle Jugendnationalteams der Eidgenossen – und stand kürzlich in der WM-Qualifikation für den Kosovo und gegen die Schweiz auf dem Platz. Er ist der dritte Spieler innerhalb weniger Wochen, der vom Schweizer Verband zum Kosovo wechselt – keiner von ihnen war Teil des Footuro-Programms.
Dass der DFB in der Vergangenheit das Thema verschlafen habe, will Rettig nicht gelten lassen. „Dass wir uns in einem Wettbewerb befinden, dem wir uns stellen müssen – das wissen wir und den nehmen wir an. Klar ist aber auch, dass alle Verbände die Schlagzahl erhöht haben.“Zugleich will der DFB etwas anstoßen, das im Vereinsfußball längst Usus ist: das Zahlen von Aufwandsentschädigungen. Die fließen bislang schon an den jeweiligen Jugendverein, wenn ein Spieler für eine Millionensumme den Klub wechselt. Rettig möchte, dass künftig auch die ausbildenden Verbände bei einem Wechsel der Nationalmannschaft beteiligt werden: „Es gibt Spieler, die von der U15 bis zur U21 unsere Jugendauswahlteams durchlaufen haben und sich dann einem anderen Verband anschließen. Natürlich liegt die Ausbildung zum großen Teil bei den Vereinen, aber auch der Verband hat manche Spieler an bis zu 75 Tagen im Jahr unter seiner Obhut. Dass ein Verbandswechsel zum Nulltarif stattfindet, stört mein Gerechtigkeitsempfinden. Ausbildung muss sich lohnen, auch für den Ausbilder. Diese Richtung wollen wir angehen.“
Wie hoch diese Summe sein soll, ist noch nicht klar. Rettig sagt, es gehe ihm darum, das Thema nun zu platzieren. Am liebsten wäre es ihm aber, wenn die besten Talente sich für Deutschland entscheiden. Wie gut Uzun ist, bekommt der DFB nun an nahezu jedem Wochenende in der Bundesliga vorgeführt.
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